29.11.2019

Gestrandet bei Freunden – Die Familien-WG als Lebensmodell

Ein reduziertes Leben leben, aus weniger mehr machen, uns von altem Ballast trennen und neu anfangen – wir konnten es kaum erwarten damit loszulegen und kündigten unsere Wohnung kurzerhand zum 01.11.2019.

Zu diesem Zeitpunkt haben wir zwar schon unseren Bus – Gott sei Dank – jedoch ist er noch ein rohes Ungetüm, an dem noch keine Schraube in Richtung Fertigstellung gedreht wurde.

Macht nichts, denken wir. Das bekommen wir schon hin. Wir haben ja ganze 3 (!!) Wochen Zeit  in denen wir uns Vollzeit dem Projekt hingeben können.

Wir standen früh mit dem Nachmieter in Kontakt und während wir uns freuten, unsere Wohnung schon bald in derart beglückte Hände zu übergeben, trifft es uns wie ein Blitz: Die Frage, wo wir in der nächsten Zeit eigentlich leben wollen.

Ja wo leben wir, wenn die Wohnung weg ist und der Bus ausgebaut werden muss? Wo ziehen wir hin mit unseren immer noch viel zu vielen Krempel?

Große Sorgen machten wir uns nicht, sind wir doch schließlich mit einem großen Bekannten- und Freundeskreis gesegnet. Irgendwer wird schon ein Plätzchen für uns frei machen. Doch beim aktiven Nachgrübeln will uns nicht so recht einfallen, wer uns aufnehmen könnte.

Ach je, wie naiv, nicht wahr? Oder einfach nur sorgenfrei und positiv gedacht?

So oder so, wir haben Glück! Ein Anruf bei unserer Freundin Diddi, ein kurzes Herumdrucksen „ähm, naja, wir suchen.., würden uns freuen…, naja , ginge da eventuell was? So ganz ohne Umstände und natürlich NUR , wenn´s wirklich ok ist? Ähm, na, wäre es möglich? Oder lieber nicht?…“

Das ganze Herumwürgen im Konjunktiv war gänzlich unnötig. Unsere Diddi, wie sie leibt und lebt, kreischte statt zu antworten schrill in den Hörer und unterbrach damit – dem Himmel sei Dank –  meine kläglichen Frageversuche.

Ich war erleichtert, denn ich wusste ihr grelles Aufjauchzen hieß übersetzt so viel wie „Ja, ich freue mich! Kommt zu uns, kein Problem“.  Wallo, der das laute Schrillen selbst am anderen Ende des Raumes vernahm, grinste mich breit an. Ich grinste zurück, dann verfielen Diddi und ich in das für uns so typische gackerige Geschnatter, mal durch Quietschen, mal durch wieherndes Gelächter unterbrochen.

Wir freuten uns wie kleine Kinder, bald zusammen zu wohnen. In Windeseile malten wir uns verschiedene Szenarien aus, was wir alles gemeinsam tun würden, wo wir schlafen würden, wie unsere Kinder gemeinsam spielen, wer kocht etc, was wir kochen…

Ich legte auf und Wallo und mir fiel ein Stein vom Herzen. Immerhin haben wir unsere Rahnsdorfer-Freunde schon lange nicht mehr gesehen. Dank des  hektischen Lebens hatten wir uns auseinander gelebt und kaum noch gesehen.  Umso mehr freuten wir uns, auf diese gemeinsame Zeit und wir waren dankbar, mit offenen Armen aufgenommen worden zu sein.

Wir würden in den Dachboden eines drei Etagen-Mehrfamilienhauses ziehen, bevölkert von drei Parteien, vier Freunden. Im Erdgeschoss lebt Guido, Diddis Bruder, in der Mitteletage wohnen Peter und Anni, ebenfalls gute Freunde von uns, oben wohnt Diddi mit ihrem 4 jährigen Sohn Louis und ganz oben unter dem Dachgiebel würden wir jetzt leben, auf geschätzten 20m² Fläche, zwischen den gemütlichen Balken und Schrägen des Dachbodens.

Das reichte uns. Nachdem wir unser Hab und Gut die engen Stufen hochgewuchtet hatten, haben wir noch ganze 7m² Fläche übrig. Genug, um uns wohl zu fühlen.

Rasch schieben wir die Matratzen in die dunkelste Ecke und türmen in einer anderen Zimmerecke Kissen und Decken zur Couch auf. Kerzen und Lichterketten machen aus dem Dachboden unseren Wohlfühlraum für die nächsten Wochen.

Die letzten Tage waren furchtbar anstrengend, sowohl emotional, durch das Aufgeben der Wohnung, als auch körperlich, da wir täglich Kisten von A nach B über C nach D schafften. Total kaputt krachten wir daher direkt auf dem Kissenberg zusammen.

Wir waren nicht traurig, nicht wehmütig, auch nicht ängstlich in Anbetracht der kommenden Wochen, wir waren einfach nur wahnsinnig erleichtert. Wir fühlten uns leicht, frei, unserem zukünftigen rollenden Zuhause einen großen Schritt näher gekommen.

 

Jetzt, 4 Wochen nach unserem Einzug, finden wir es an der Zeit, Resümee zu ziehen.

Wir müssen ja zugeben, wir haben das böse Erwachen erwartet. Viel zu schön haben wir es uns ausgemalt, das kann doch nicht gut gehen, wäre doch zu schön um wahr zu sein, oder?

Was soll ich dir sagen, es ist sogar noch schöner.

Wir schlafen im Dachboden, aber das Leben findet in Diddis Wohnung statt. Dort wird gemeinsam gekocht, gebadet, gewaschen, gegammelt, gegessen, gespielt, gequatscht, gelacht, geputzt, gesungen, getanzt, geschwiegen.

Unfassbar, aber uns fehlt nichts, gar nichts! Im Gegenteil, wir fühlen uns bereichert, seit wir hier leben. Wie viel leichter es sich lebt, wenn man in guter Gesellschaft ist. Hier in paar Beispiele:

Heute Abend wollen wir gemeinsam kochen, ich gehe kurzerhand zu Peter und borge mir seine Pfannen, weil unsere in Kisten warten und Diddi keine hat, Peter kommt im Gegenzug gerne hoch und isst mit uns . Wallo baut derweil am Bus und Guido hilft ihm mit wertvollen Tipps, wann immer er vorbei kommt. Diddi bietet uns ihren Wohnraum an und Wallo handwerkelt ihren Spiegel an die Wand und schiefe Rollos wieder gerade. Ich kann saugen auf den Tod nicht ausstehen,  so ergeht es Diddi mit dem Wäscheaufhängen.  Großartig, sie saugt, ich mache die Wäsche. Während ich meist koche, kümmert sich Diddi um die Kinder und geht mit ihnen raus zum Spielplatz. Die Türen der drei  Wohnungen sind stets geöffnet, es wird geteilt und geholfen, niemand ist allein und es ist immer einer da der unterstützt, auffängt oder  abfängt. Wir schenken uns gegenseitig Zeit und Kraft, ein so wichtiges Gut und alle Beteiligten profitieren davon.

Warum also entscheiden wir uns heutzutage meist dafür alleine zu leben, frage ich mich? Nach acht Jahren leben im eigenen Haushalt, mit verschlossenen Türen und weitestgehend anonym, komme ich nicht umhin festzustellen, wie sinnvoll und angenehm es ist, in einer Gemeinschaft zu leben.

In einer Welt mit wenig Wohnraum, beschränkten Ressourcen, zu viel Müll, zu viel Konsum, erschöpfter, häufig depressiver und einsamer Menschen, wäre es da nicht das Sinnvollste, wir würden uns zusammentun, uns unterstützen und von der Gemeinschaft profitieren? Kooperation, statt Konkurrenz?

Uns allen gibt die neue Lebenssituation zu denken. Nicht nur wir Erwachsenen genießen das Zusammenleben. Auch Alva kommt stets gerne nach Hause, um mit Louis zu spielen. Ihr altes, von ihr geliebtes Zuhause ist kein Thema mehr. Sie lebt und spielt in Louis` Reich, spielt mit seinen Sachen, sitzt an seinem Tisch, tobt in seinem Garten. Man könnte meinen, er müsse ein Problem damit haben, aber das hat er nicht. Im Gegenteil,  Wenn wir uns mal verspäten, dann fragt louis schon sehnsüchtig nach Alva. Auch die Kleinsten von uns bekommen mit, wie schön das gemeinsame Leben ist, auch wenn es bedeutet zu teilen und den Willen des anderen zu respektieren.

Louis wächst anders auf als Alva, sein Leben ist anders getaktet, als das unsrige – logisch. Wir achten in unserer Erziehung auf andere Schwerpunkte als Diddi, unsere Werte sind nicht die gleichen. Ein Konfliktherd? Könnte es sein, muss es aber nicht.

Obwohl unsere Rituale und Lebensweisen als Familien verschieden sind, so harmonieren wir  gemeinsam gut miteinander und lernen – gerade durch  unsere Differenzen – vom jeweils anderen.

Ob Groß oder Klein, wir erkennen, dass unser Wille nicht der allmächtige ist und die Denkweise des Anderen für uns bereichernd sein kann. Wir lernen, uns zurückzunehmen und stattdessen genauer hinzusehen. Unsere Kinder üben sich darin, zu teilen, und merken, dass es sich lohnt zu geben. Sie lernen auch, dass das, was der Andere darf, nicht zwangsläufig auch heißt, dass sie es ebenso dürfen. Sie sehen und spüren, dass Menschen unterschiedlich leben und fangen an, sich ihr eigenes Bild zu machen.

Genau da ist einer der Gründe für uns gewesen zu reisen. Menschen treffen, von Menschen lernen, mit ihnen reden, hinsehen.

Genau hier und jetzt, während Wallo draußen am Bus baut und während  ich dies schreibe, stelle ich fest, dass wir bereits  auf Reisen sind.

Auf bereichernde Begegnungen,
Eure Melli