03.01.2020

Der Abschied

Loslassen kostet weniger Kraft, als Festhalten. Und dennoch ist es schwerer.

Detlev Fleischhammel

 

Ich sitze in einem heillos überfüllten Ikea  bei Heidelberg. Mein dritter Versuch endlich ein paar Worte zu Papier zu bringen. Seit meinem letzten Eintrag ist viel Zeit vergangen, eine außerordentlich hektische Zeit, gefüllt mit mehr Tiefs als Hochs, wenig Schlaf und erschöpften Geiste. Ich habe es schlichtweg nicht geschafft zu schreiben. Beim letzten Versuch bin ich über dem Rechner gebeugt eingeschlafen.

 

Die letzten Tage

Berlin wollte uns  nicht loslassen und bescherte uns einen kleinen Zwischenfall nach dem anderen, die in Summe wieder ganze zwei  Wochen ausmachten, zuzüglich zu den ohnehin drei Wochen Verspätung. Nun scheinen zwei Wochen keine lange Zeit zu sein, sind es auch nicht, jedoch standen wir jedes Mal aufs Neue mit gepackten Taschen stramm, um sie schlussendlich doch wieder sinken zu lassen. Das zermürbt auf Dauer das Gemüt und hat uns unendlich erschöpft. Hinzu kommt, dass es sich um Probleme handelte, die gelöst werden wollten. Die letzten Wochen schraubte und bastelte Wallo daher unermüdlich am Bus, bis tief in die Nacht und ich half mit, wo ich nur konnte. In den Weihnachtsferien war die Kita geschlossen und ich versuchte nebenbei auch Alva gerecht zu werden. In der gleichen Zeit wuchs mein Bauch beachtlich an und der kleine Knirps in mir machte durch sein forderndes Drücken auf meine Lunge zusehends seinen Wunsch nach Aufmerksamkeit und Ruhe deutlich. Kurzum, wir sprangen alle im Dreieck, schnauften und sehnten uns nach der erlösenden Abfahrt.

 

Loslassen

Bei all dem Trubel schafften wir es kaum, dem nahenden Abschied ein anderes Gefühl als Erleichterung entgegen zu bringen, während die Gesichter unserer Liebsten um uns herum immer trüber  wurden.

Während Alva und Wallo das gut wegzustecken scheinen, brach es mir innerlich das Herz und tut es noch. Ach ich verstehe so gut, wie es sich anfühlen muss, sein Kind und Enkelkind, bzw. Urenkelkind gehen zu lassen, ohne zu wissen, wann genau sie zurückkehren werden. Selbst als reisende und freiheitsliebende Mama gruselt es mich schon jetzt davor, wenn ich an den Moment denke, in dem es Alva auf unbestimmte Zeit in die Welt zu ziehen. Und dennoch wünsche ich es mir für sie aus vollstem Herzen.

Paolo Coelho bezeichnet die Menschen, die wir am meisten lieben, nicht ohne Grund als eines der größten  Hindernisse, bei der Erfüllung unserer Träume. Denn wir haben größte Angst davor, unsere Eltern, Partner, Kinder, Familie und Freunde zu verletzten und scheuen meist davor zurück. Es ist unangenehm und lässt uns umso mehr leiden, denn müssen wir nicht nur unseren eigenen Kummer ertragen, sondern auch den der Anderen, für den wir uns außerdem verantwortlich fühlen. Wir fühlen uns schuldig, denn unser Handeln lässt unsere Liebsten unglücklich werden. Das ist eine gewaltige Last.

Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut. Schon immer hat es mich in die Welt gezogen, schon immer war ich rastlos, suchend,  erst entspannt, wenn ich mit mir allein in der Ferne war. Dem gegenüber steht meine wahnsinnig enge Bindung zu meiner Familie, die ich über alles liebe und unbedingt glücklich wissen möchte. Als Einzelkind fühlte ich mich häufig schuldig, da ich ihnen nicht geben konnte, was sie am meisten zu brauchen schienen, nämlich meine Gegenwart. Nun nehme ich ihnen auch noch unsere Tochter.

Aber genau da liegt der Fehler begraben und es brauchte einige Zeit bis ich verstand, dass mich ihre Liebe nicht an der Erfüllung meiner Träume und an dem Gehen meines Weges hindert. Ganz im Gegenteil. Es ist lediglich mein Verstand. Das sie traurig sind, liegt daran, dass sie mich lieben und wir alle wünschen uns nur das Beste für unsere Liebsten und das sie glücklich sind. Und diese Reise macht mich glücklich. Mich, Wallo und Alva. Und das wiederum macht auch die Familie zu Hause froh, auch wenn wir ihnen natürlich fehlen werden.

Ihre Liebe ist also kein Hinderniss, sondern eine großzügige, bedingungslose Kraft, die uns vorwärtsschubst. Mit ihrer Wärme im Rücken, können wir fliegen. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass sie uns in unserem Vorhaben unterstützen, jeder auf seine Weise, auch wenn es sie traurig stimmt. Wir können es nur dankend annehmen und uns als Eltern bereit halten. Denn auch uns wird dieser Moment ereilen, in dem wir Stärke und Liebe zeigen müssen und unsere Kinder loslassen.

 

Wir sind los

Die letzten Tage vor unserer Abfahrt am 31.12.2019 waren so stressig, dass es uns das Gehen erleichterte. Wir waren schlichtweg zu erschöpft für große Gefühle und vernebelt im Kopf.

Hier nun, im Ikea in Heidelberg, wo die Welt um mich herum hektisch dem Hotdogstand entgegen jagt, bin ich innerlich endlich ruhig. So langsam dämmert mir, dass wir abgefahren sind und für (hoffentlich) lange Zeit fort sein werden. Während ich dies schreibe und die Erkenntnis immer tiefer dringt, fängt es an hinter meinen Augen zu drücken. Hier sitze ich nun, in der hintersten Ecke im Kundenservicebereich, an eine schwarze Wand mit Steckdose gedrückt und mit Blick auf die überschwemmten Kassen und mir fehlen meine Liebsten. Möchten sich etwa hier, inmitten der Öffentlichkeit, die ungeweinten Tränen ans Licht drücken?  Nun, es würde  sowieso keiner hier bemerken. Aber während ich noch darüber nachdenke, muss ich auch lächeln. Freude und Trauer, Glück und Unglück, Süße und Bitternis liegen doch erstaunlich nah beieinander, oder gar übereinander? In mir wühlt ein wilder Cocktail aus allen möglichen Gefühlen. Das ist der verlockende und gleichzeitig abschreckende Geschmack der Freiheit. Ich kenne diesen Geschmack und fürchte und liebe ihn gleichzeitig. Nein, eigentlich bin ich süchtig danach. Es fängt an in mir zu kribbeln und Aufregung macht sich breit.

Wir sind abgefahren.

Wir sind abgefahren.

Wir sind abgefahren. Wirklich.

Es passiert wirklich.

Ja, wirklich.

Ich lebe meinen Traum!

Kann das wahr sein?

WIR leben UNSEREN Traum!

Dieses Gefühl lässt sich nicht beschreiben. Euphorisierend und unglaublich. Nicht das erste Mal zweifel ich an der Realität.

Das ist unser Traum, unser Ziel, unser Leben. Und wir leben es tatsächlich. Einfach so. Denn wir können es. Wir können es alle.

Es piept. Der Akku des Rechners holt mich aus meinen Gedanken zurück. Verdammt, umsonst habe ich an der Wand gekauert. Die Steckdose hat keinen Strom abgegeben.

Es ist Zeit zu gehen. Alva und Wallo werden gleich aus dem Baumarkt kommen und mich abholen.

Dann heißt es weiter fahren.  Weiter Richtung Süden. Weiter den Weg ins Unbekannte.

Wir wissen noch nicht, wo wir heute schlafen werden. Müssen wir auch nicht. Unser Bett fährt ja mit.

Wir hören uns bald wieder! Die französische Grenze naht.

Ahoi Eure Melli